Delaporte näherte sich schweigend dem Lager der Archäologen. Er hatte die Mauern dreimal umrundet, ohne ein einziges Tor zu entdecken. Von massiven Türmen bewacht, durch ein unbegreifliches Wunder auf den Gipfel eines abschüssigen Hügels gestellt, blieb die Festung im eingentlichsten Sinn des Wortes unbezwingbar. Die beinahe dreißig Meter hohen Mauern, die aus riesigen Andesitblöcken bestanden, konnten nicht erklettert werden. Sogar der Anstieg bis zu ihrem Fuß wäre für jeden, der über keine alpinistische Ausbildung verfügte, unmöglich gewesen. Delaporte warf das zusammengerollte Seil auf die andere Schulter. Die Stahlringe klirrten fröhlich aneinander. Er betrachtete seine geschwollenen Hände; an der rechten Hand schmerzten zwei Finger heftig. Ein paar Schritte hinter ihm kamen Arik, Akurgal und Bozkurt, die ihn auf der Unternehmung begleitet hatten.
Die Wissenschaftler hatten sich erwartungsvoll vor dem Zelt von Texier jr. versammelt.
Delaporte sah sie von fern, machte ihnen aber kein Zeichen.
„Es ist klar“, sagte Rosenkranz, der wie meist Kaugummi kaute.
„Natürlich“ stimmten Kann und Balkan gleichzeitig zu.
Ceram vermied, sich vor Eintreffen des kleinen Trupps zu äußern. Im übrigen konnte man den
ermüdeten Gesichtern der Amateurbergsteiger deutlich ansehen, daß alle Hoffnungen
vergeblich gewesen waren. Neugierig versammelten sie sich um die Ankömmlinge.
„Texier hat eine Stadt ohne Tore entdeckt und uns hierher gebracht, damit wir ihre
Silhouette bewundern“, scherzte Delaporte ohne die geringste Begeisterung.
„Kurz“, bestätigte Bozkurt, „wir haben nichts erreicht.“
„Überhaupt nichts?“
„Nichts“, antwortete Arik verbittert.
Sie schwiegen. Texier fühlte sich verpflichtet, eine Erklärung abzugeben.
„Ich kann nichts dafür, daß sie keine Tore hat. Ihr müßt zugeben, daß dieses Detail meine
Entdeckung noch sensationeller macht. Daß man aus heiterem Himmel über eine drei
Jahrtausende alte Stadt stolpert, die bis heute vollkommen erhalten ist!“
„Sehr schön, aber was tun wir?“
Es folgte eine lange Debatte. Forrer schlug vor, einen Tunnel in den felsigen Hügel zu
graben, der in der Mitte der Stadt münden sollte. Laroche widersprach ihm scharf und
behauptete, daß es viel wirtschaftlicher wäre, einen Teil der Mauer in die Luft zu sprengen.
Messerschmidt schlug einen Bombenangriff aus der Luft vor und empfahl den Einsatz von
Hubschraubern. Moortgat widersetzte sich energisch:
„Damit bin ich auf keinen Fall einverstanden! Wir haben die einmalige Chance, die Stadt zu
entdecken, die über dreitausend Jahre lang jeder Zerstörung widerstanden hat, und
ausgerechnet wir Archäologen sollen sie zerstören?! Können wir denn nur zwischen Ruinen
leben?“
Delaporte hielt es für an der Zeit einzugreifen:
„Wir können Schwierigkeiten mit den Einwohnern bekommen. Moortgat hat recht.“
„Welche Einwohner?“ fuhr Hogarth auf.
„Die Stadt ist bewohnt“, erklärte ihm Bozkurt.
„Als wir den Hügel erkletterten, hörten wir sie sprechen“, fügte Akurgal hinzu. „Sie haben
laute, durchdringende Stimmen.“
„Und das sagt ihr erst jetzt!“ schimpfte Hrozny, der sich seit einigen Wochen bemühte, die
Sprache der Erbauer der Festung abzuleiten, indem er von der Konstruktion der Mauern
ausging. „Was haben sie gesagt?“
„Wir haben nur zwei Worte behalten, die stets wiederkehrten: ‚múrsilis‘ und
‚hántilis‘.“
Hrozny erstarrte.
„Genauso habe ich es mir vorgestellt“, stotterte er. „Gehen wir, wir können ihnen vielleicht
eine Botschaft übermitteln.“
Die Archäologen setzten sich in Richtung auf den Hügel in Bewegung. Texier ging mit für
sein Alter überraschender Schnelligkeit an der Spitze. Porada und Koschaker folgten in
einigen Schritten Abstand. Dann kam das Gros der Expedition und am Schluß, erschöpft, die
eben erst Zurückgekehrten. Alle redeten gleichzeitig, von plötzlicher, verdächtiger
Begeisterung erfaßt.
„Es bleibt noch die Variante mit dem trojanischen Pferd“, erklärte Rosenkranz.
„Eine Botschaft“, kreischte Hrozny erregt, der es trotz des eiligen Aufbruchs geschafft
hatte, einen Grammophontrichter mitzunehmen.
„Múrsilis“, wiederholte Delaporte ununterbrochen.
„Ruhe!“ befahl Texier, als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten.
Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, legte Hrozny den Grammophontrichter an den Mund und
schrie aus Leibeskräften:
„Sullát sullatár, sullamí salatiwár!“
Sofort antwortete von jenseits der Mauer ein Chor von Stimmen:
„Labárna hastáya, tabárna asharpáia!“
„Was, zum Teufel, ist das?“ ärgerte sich Ceram.
Texier bedeutete ihm zu schweigen. Hrozny zuckte verwirrt die Achseln, um zu zeigen, daß er
kein Wort verstanden hatte.
„Mitánni! Mitánni!“ rief er beinahe verzweifelt in den Trichter, mit einem
letzten, vergeblichen Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden.
Die anderen antworteten nicht. Die aschgrauen Mauern der Festung verliehen den Minuten vollkommener Stille einen kriegerischen Anstrich. Dann erschienen auf den beiden Seiten des Hügels unerwartet die hethitischen Krieger in schnellen, von kleinen Pferden gezogenen Kampfwagen; sie trugen gespannte Bogen und Bronzebeile. Die großen, holzernen Räder dröhnten betäubend und übertönten das Klappern der Hufe und die wilden Schreie der langhaarigen Kämpfer. Die Wissenschaftler waren in einen tödlichen Hinterhalt geraten. Jeder Widerstand war zwecklos.
Unvermittelt hielten die Wagen an.
„Hattilí supiluliúma“, sagte ein Krieger an der rechten Flanke im Ton eines
Unterhändlers.
„Antworten Sie nicht“, rief Moortgat Hrozny zu, „damit wir sie nicht provozieren.“
„Assúwa samúha tawanánna“, ließ der Krieger nicht locker.
„Karkemíş gasgás datássa“, unterstützte ihn jemand von der linken Flanke.
Aus der Festung kam der unsichtbare Chor:
„Ziúla, zálpa huwarúwas! Ziúla, zálpa huwarúwas!“
Die Krieger wurden hitziger:
„Hattuşíl gurgúm kumúhu, telipínu putuhépa!“
„Hánis kánes pihassássis, hátti hálys muwatállis!“
„Arnuwándas kizzuwátna, pentipsáni purushánda, pámba pála tapassánda!“
Als erster brach Hrozny zusammen, dessen Herz dieser lexikalischer Lawine nicht
gewachsen war. Die Hethiter schossen die Pfeile ab; die Beile wurden schwungvoll
geschleudert. Einige Wissenschaftler brachen tödlich getroffen zusammen. Der Anführer der
Krieger hob die Hand. Die Feindseligkeiten hörten auf.
„Vous avez voulu voir Hattuşáş, sagte der Anführer in schönstem Schulfranzösisch, „hé
bien, vouz allez être exaucés!“
Einige Kämpfer stiegen aus den Wagen und fesselten die wenigen Überlebenden, die vor Entsetzen verstummt waren. Die Leichname wurden in die Kampfwagen geworfen. Der schwer verletzte Delaporte brüllte entsetzlich und wurde mit einer Lanze durchbohrt. Im gleichen Augenblick öffnete sich knarrend ein Tor zwischen den Felsen. Einige Minuten später waren die Hethiter mit Pferden, Wagen und Gefangenen in der dunklen Öffnung eines Tunnels verschwunden, das Tor fiel zu und wurde wieder zum undurchdringlichen Fels. Kurz darauf waren alle Spuren des Zwischenfalls wie weggewischt. Und dann brachen die Mauern der Festung geräuschlos zusammen, wie in einem Traum.
Seither hat niemand mehr die ehrenwerten Wissenschaftler, die Mitglieder der archäologischen Expedition Texier jr. gesehen. Nur das verlassene Lager, ein stummer Zeuge, errinerte die Welt eine Zeitlang an ihr tragisches Schicksal. Dann verwandelten es der Wind, der Regen und die Neugierde der Einheimischen Zelt um Zelt in vielfarbigen Staub.
(Aus dem Band Cuadratura cercului [Die Quadratur des Kreises], Dacia Verlag, Klausenburg 2001)
Aus dem Rumänischen übersetzt von Hilde Linnert