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Gheorghe Săsărman

Ausgewählte Texte

HATTUȘÁȘ

Delaporte näherte sich schweigend dem Lager der Archäologen. Er hatte die Mauern dreimal umrundet, ohne ein einziges Tor zu entdecken. Von massiven Türmen bewacht, durch ein unbegreifliches Wunder auf den Gipfel eines abschüssigen Hügels gestellt, blieb die Festung im eingentlichsten Sinn des Wortes unbezwingbar. Die beinahe dreißig Meter hohen Mauern, die aus riesigen Andesitblöcken bestanden, konnten nicht erklettert werden. Sogar der Anstieg bis zu ihrem Fuß wäre für jeden, der über keine alpinistische Ausbildung verfügte, unmöglich gewesen. Delaporte warf das zusammengerollte Seil auf die andere Schulter. Die Stahlringe klirrten fröhlich aneinander. Er betrachtete seine geschwollenen Hände; an der rechten Hand schmerzten zwei Finger heftig. Ein paar Schritte hinter ihm kamen Arik, Akurgal und Bozkurt, die ihn auf der Unternehmung begleitet hatten.

Die Wissenschaftler hatten sich erwartungsvoll vor dem Zelt von Texier jr. versammelt. Delaporte sah sie von fern, machte ihnen aber kein Zeichen.
„Es ist klar“, sagte Rosenkranz, der wie meist Kaugummi kaute.
„Natürlich“ stimmten Kann und Balkan gleichzeitig zu.
Ceram vermied, sich vor Eintreffen des kleinen Trupps zu äußern. Im übrigen konnte man den ermüdeten Gesichtern der Amateurbergsteiger deutlich ansehen, daß alle Hoffnungen vergeblich gewesen waren. Neugierig versammelten sie sich um die Ankömmlinge.
„Texier hat eine Stadt ohne Tore entdeckt und uns hierher gebracht, damit wir ihre Silhouette bewundern“, scherzte Delaporte ohne die geringste Begeisterung.
„Kurz“, bestätigte Bozkurt, „wir haben nichts erreicht.“
„Überhaupt nichts?“
„Nichts“, antwortete Arik verbittert.

Sie schwiegen. Texier fühlte sich verpflichtet, eine Erklärung abzugeben.
„Ich kann nichts dafür, daß sie keine Tore hat. Ihr müßt zugeben, daß dieses Detail meine Entdeckung noch sensationeller macht. Daß man aus heiterem Himmel über eine drei Jahrtausende alte Stadt stolpert, die bis heute vollkommen erhalten ist!“
„Sehr schön, aber was tun wir?“

Es folgte eine lange Debatte. Forrer schlug vor, einen Tunnel in den felsigen Hügel zu graben, der in der Mitte der Stadt münden sollte. Laroche widersprach ihm scharf und behauptete, daß es viel wirtschaftlicher wäre, einen Teil der Mauer in die Luft zu sprengen. Messerschmidt schlug einen Bombenangriff aus der Luft vor und empfahl den Einsatz von Hubschraubern. Moortgat widersetzte sich energisch:
„Damit bin ich auf keinen Fall einverstanden! Wir haben die einmalige Chance, die Stadt zu entdecken, die über dreitausend Jahre lang jeder Zerstörung widerstanden hat, und ausgerechnet wir Archäologen sollen sie zerstören?! Können wir denn nur zwischen Ruinen leben?“
Delaporte hielt es für an der Zeit einzugreifen:
„Wir können Schwierigkeiten mit den Einwohnern bekommen. Moortgat hat recht.“
„Welche Einwohner?“ fuhr Hogarth auf.
„Die Stadt ist bewohnt“, erklärte ihm Bozkurt.
„Als wir den Hügel erkletterten, hörten wir sie sprechen“, fügte Akurgal hinzu. „Sie haben laute, durchdringende Stimmen.“
„Und das sagt ihr erst jetzt!“ schimpfte Hrozny, der sich seit einigen Wochen bemühte, die Sprache der Erbauer der Festung abzuleiten, indem er von der Konstruktion der Mauern ausging. „Was haben sie gesagt?“
„Wir haben nur zwei Worte behalten, die stets wiederkehrten: ‚múrsilis‘ und ‚hántilis‘.“
Hrozny erstarrte.
„Genauso habe ich es mir vorgestellt“, stotterte er. „Gehen wir, wir können ihnen vielleicht eine Botschaft übermitteln.“

Die Archäologen setzten sich in Richtung auf den Hügel in Bewegung. Texier ging mit für sein Alter überraschender Schnelligkeit an der Spitze. Porada und Koschaker folgten in einigen Schritten Abstand. Dann kam das Gros der Expedition und am Schluß, erschöpft, die eben erst Zurückgekehrten. Alle redeten gleichzeitig, von plötzlicher, verdächtiger Begeisterung erfaßt.
„Es bleibt noch die Variante mit dem trojanischen Pferd“, erklärte Rosenkranz.
„Eine Botschaft“, kreischte Hrozny erregt, der es trotz des eiligen Aufbruchs geschafft hatte, einen Grammophontrichter mitzunehmen.
Múrsilis“, wiederholte Delaporte ununterbrochen.
„Ruhe!“ befahl Texier, als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten.

Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, legte Hrozny den Grammophontrichter an den Mund und schrie aus Leibeskräften:
Sullát sullatár, sullamí salatiwár!“
Sofort antwortete von jenseits der Mauer ein Chor von Stimmen:
Labárna hastáya, tabárna asharpáia!“
„Was, zum Teufel, ist das?“ ärgerte sich Ceram.
Texier bedeutete ihm zu schweigen. Hrozny zuckte verwirrt die Achseln, um zu zeigen, daß er kein Wort verstanden hatte.
Mitánni! Mitánni!“ rief er beinahe verzweifelt in den Trichter, mit einem letzten, vergeblichen Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Die anderen antworteten nicht. Die aschgrauen Mauern der Festung verliehen den Minuten vollkommener Stille einen kriegerischen Anstrich. Dann erschienen auf den beiden Seiten des Hügels unerwartet die hethitischen Krieger in schnellen, von kleinen Pferden gezogenen Kampfwagen; sie trugen gespannte Bogen und Bronzebeile. Die großen, holzernen Räder dröhnten betäubend und übertönten das Klappern der Hufe und die wilden Schreie der langhaarigen Kämpfer. Die Wissenschaftler waren in einen tödlichen Hinterhalt geraten. Jeder Widerstand war zwecklos.

Unvermittelt hielten die Wagen an.
Hattilí supiluliúma“, sagte ein Krieger an der rechten Flanke im Ton eines Unterhändlers.
„Antworten Sie nicht“, rief Moortgat Hrozny zu, „damit wir sie nicht provozieren.“
Assúwa samúha tawanánna“, ließ der Krieger nicht locker.
Karkemíş gasgás datássa“, unterstützte ihn jemand von der linken Flanke.
Aus der Festung kam der unsichtbare Chor:
Ziúla, zálpa huwarúwas! Ziúla, zálpa huwarúwas!“
Die Krieger wurden hitziger:
Hattuşíl gurgúm kumúhu, telipínu putuhépa!“
Hánis kánes pihassássis, hátti hálys muwatállis!“
Arnuwándas kizzuwátna, pentipsáni purushánda, pámba pála tapassánda!“

Als erster brach Hrozny zusammen, dessen Herz dieser lexikalischer Lawine nicht gewachsen war. Die Hethiter schossen die Pfeile ab; die Beile wurden schwungvoll geschleudert. Einige Wissenschaftler brachen tödlich getroffen zusammen. Der Anführer der Krieger hob die Hand. Die Feindseligkeiten hörten auf.
Vous avez voulu voir Hattuşáş, sagte der Anführer in schönstem Schulfranzösisch, „hé bien, vouz allez être exaucés!“

Einige Kämpfer stiegen aus den Wagen und fesselten die wenigen Überlebenden, die vor Entsetzen verstummt waren. Die Leichname wurden in die Kampfwagen geworfen. Der schwer verletzte Delaporte brüllte entsetzlich und wurde mit einer Lanze durchbohrt. Im gleichen Augenblick öffnete sich knarrend ein Tor zwischen den Felsen. Einige Minuten später waren die Hethiter mit Pferden, Wagen und Gefangenen in der dunklen Öffnung eines Tunnels verschwunden, das Tor fiel zu und wurde wieder zum undurchdringlichen Fels. Kurz darauf waren alle Spuren des Zwischenfalls wie weggewischt. Und dann brachen die Mauern der Festung geräuschlos zusammen, wie in einem Traum.

Seither hat niemand mehr die ehrenwerten Wissenschaftler, die Mitglieder der archäologischen Expedition Texier jr. gesehen. Nur das verlassene Lager, ein stummer Zeuge, errinerte die Welt eine Zeitlang an ihr tragisches Schicksal. Dann verwandelten es der Wind, der Regen und die Neugierde der Einheimischen Zelt um Zelt in vielfarbigen Staub.


(Aus dem Band Cuadratura cercului [Die Quadratur des Kreises], Dacia Verlag, Klausenburg 2001)

Aus dem Rumänischen übersetzt von Hilde Linnert


Gheorghe Săsărman

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