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Gheorghe Săsărman

Ausgewählte Texte

MOTOPIA

Mit Sicherheit vermag man eigentlich nicht zu sagen, wann dieses Motopia entstanden ist, und wann seine Ausbreitung ihren Anfang genommen aht, geschweige denn, welche Kräfte seine Ausbreitung vorantreiben. Gering ist die Zahl derer, die sich an die schwierige Aufgabe herangewagt haben, die Zukunft Motopias zu erkunden, obwohl viele Leute befürchten, nichts werde sein hemmungsloses Wachstum aufhalten können. Motopia ist eine aus den Nähten platzende Stadt. Aber ist es überhaupt eine Stadt?

Stellen Sie sich eine Fläche vor, begrenzt von einem Kreis mit einem – im übrigen nur annähernd anzugebenden – Durchmesser von etwa 100 Kilometer. Die Umfangslinie dieses Kreises bilden mehr als 100.000 Exemplare einer Art Riesenplanierraupe, die sich nebeneinander langsam, aber unaufhaltsam in Außenrichtung voranbewegen. In dem Maße, wie bei ihrer Bewegung vom Mittelpunkt weg freie Räume zwischen ihnen entstehen, reihen sich andere neue Planierraupen in die Vortriebsstrecke ein. Diese im wahrsten Sinne wandernde vollautomatisierte Fabrik hat den Zweck, die Offensive vorzubereiten.

Hügel und Erhebungen sind eingeebnet, Bodensenken sind zugeschüttet, ja sogar der abschüssigste Berg hat sich in eine horizontale Ebene verwandelt. Die Wälder werden zu Bauholz und Zellulose verarbeitet. Die fruchtbare Erde der Fluren gibt es nicht mehr. Man hat sie verwendet, um die Seen damit trockenzulegen. Die Flüsse hat man zu geschlossenen Kanälen umgebaut, und die gesamte Fauna wird industriemäßig nutzbar gemacht. Die Planierraupen aber sind nicht einfach nur zum Planieren da: Hinter ihnen ensteht ein märchenhaftes Straßennetz, bestehend aus mehrgeschossigen Autobahnen in Dutzende von Richtungen, ein sich wunderbar überschneidendes Spitzengewebe aus Beton und Asphalt. In den Maschen dieses Netzes befinden sich über- und unterirdische Parkräume, Turmgaragen mit mehr als zehn oder zwanzig Geschossen, mit rätselhaften Metalltüren zugesperrte Hallen. Einige hundert Meter über dem Erdboden schwebt Tag und Nacht eine bläuliche, risengroße Wolke, die den Horizont verhüllt.

Die Stadt wird ausschließlich von der fruchtbaren Spezies der Homobile bewohnt. Ihre Lebensweise ist verhältnismäßig wenig bekannt, und zwar aus weiter unten darzulegenden Gründen. Dennoch haben einige waghalsige Reporter, denen es gelang, auf wundersame Weise von dort wiederzukommen, gewisse Nachrichten verlautbaren lassen. Wenn man die beträchtliche Verwirrtheit der Zurückgekehrten berücksichtigt, wie auch ihre in Vielem widersprüchliche Aussagen, sind die verbreitungswürdigen Informationen nicht sehr reichlich bemessen.

Die Existenz – zumindest die öffentliche – der Homobile beginnt an den Türen besagter Hallen, die sie stündlich in dichten Scharen verlassen. Es hat den Anschein, als träten hier nur reife und großzylindrige Exemplare der Spezies in Erscheinung. Man hat verschiedene Subspezies zu unterscheiden, und zwar ausgehend von Herztyp, Herzposition, Übersetzung, Aufhängung und ähnlichen anatomischen Merkmalen. Kennzeichnend für jede motopianesische Familie ist eine bestimmte Konstruktion der Karosserie sowie ein jeweils individueller Unterschied in Stromlinie, Farbe und Scheinwerferzahl. Mitunter beschränkt sich ein solcher individueller Unterschied ausschließlich auf die Registriernummer. Ein Wesenszug, der allen eignet und über den sie alle Berichte einig sind, ist das rote Auge, das sich wie eine blutende Wunde auf dem Kopf eines jeden Individuums befindet, wo es ohne ersichtlichen tieferen Sinn gräßlich blinkt.

Die Homobile zeigen eine unüberwindliche Lebenskraft, die sich besonders in einer offenbar sinnlosen und überschnellen Fortbewegung auf dem zu diesem Zweck bestimmten Autobahnnetz äußert. Diese Sinnlosigkeit der Fortbewegung ist jedoch nur eine scheinbare. In Wirklichkeit vollzieht sich während dieses magischen Geschwindigkeitstanzes die natürliche Zuchtwahl, allerdings in spezifischen Formen. Die irrsinnige Jagd auf den Asphaltstreifen überleben nur die kräftigsten Exemplare, die über teuflische, dem höllischen Rhythmus des Daseins angepaßte Reflexe verfügen. Jedes Versagen der Bremsen oder der Warn- und Blinkanlagen bringt höchste Gefahren mit sich. Schon die geringste Abartigkeit der Wirbelsäule kann zu einem Verhängnis werden. Schwere Spezialfahrzeuge schleppen dann die Leichen in die Nähe der Hallen, wo sie – nach einer vorherigen Stauchung, bei der sie Quaderform annehmen – auf geheimnisvolle Weise wieder nutzbar gemacht werden. Wahrscheinlich werden sie für die komplizierte Zeugung neuer Exemplare verwertet.

Außerhalb der Stunden, in denen die lange und erbitterte Straßenschlacht im täglichen Kampf ums Dasein tobt, kennen die Homobile auch Zeiten der Muße in den Parkräumen. Schweigend, unbeweglich und unempfindlich für die Annäherung von Rivalen, sind sie dann in einem merkwürdigen Zustand der Ermattung, den Rücken mitunter einem Riesenschirm zugewandt, auf dem unablässig ein beklemmender, vom harten Dasein der Bagger geprägter Film läuft. Wenn die motopianesischen Familien die Nacht nicht auf den Autobahnen verbringen, halten sie sich, übermannt von einem metallischen und traumlosen Schlaf, zu dieser Zeit in den Turmgaragen auf.

Das Gräßlichste im Leben der Motopianeser – und das macht das hemmungslose Wachstum Motopias geradezu widerwärtig – ist die Art, auf die sie sich ernähren. Kurz und knapp gesagt, es geht hier um Kannibalismus. Das Hauptnahrungsmittel der Homobile sind nämlich Menschen. Zahllose verblendete Menschen, durch eine verlogene aber geschickt geführte Propaganda angelockt und in ihrer Gutgläubigkeit betrogen, kommen hier täglich aus der Provinzstädten an. Auf Bahnhöfen und Flughäfen werden sie entladen, um entweder der hungrigen Meute sofort zum Fraße vorgeworfen oder als Schüttgut in Speziallagerungseinrichtungen – diese werden großsprecherisch „Hotels“ genannt und haben unmittelbare Verbindung zu den Baulichkeiten, in denen die einheimischen Familien die Nacht verbringen – befördert zu werden, damit man sie im lebenden Zustand als Frühstück verabreichen kann. Gesättigt, vollgestopft, mit Hängebäuchen, die bis auf einige Zentimeter an die Asphaltflächen heranreichen, und sich träge in den Kurven wiegend, machen sich die Homobile auf den Weg, um ihr genossenes Mahl zu verdauen. Finsterste Gedanken wohnen hinter ihrer glatten und undurchsichtigen Stirn. Mit Ausnahme besagter Reporter – die unsere wirklichen Erretter sind, denn die größte Gefahr liegt nicht so sehr in der Existenz Motopias als vielmehr in der Unkenntnis der dort herrschenden Lebensverhältnisse – ist noch niemand aus dieser unheimlichen Stadt wieder heimgekehrt. Ganz nebenher sei folgendes bemerkt: Die begeisterten Anrufe oder Briefe, mit denen die dort Angekommenen sozusagen ihr Entzücken kundtun oder ihren Entschluß mitteilen, sich in dieser Stadt für immer niederzulassen, kann man nur als Verzweiflungstat werten, zu der sie im Angesicht des Todes gezwungen wurden, wenn nicht gar als plumpe Fälschungen und bewußte Irreführungen.

Die Überlebenden erzählen haarsträubende Dinge über die grenzenlose Grausamkeit der Homobile, die oft nicht nur auf der Nahrungssuche – zumal sie sich ausschließlich von lebenden Menschen ernähren –, sondern auch zum reinen Vergnügen töten. Sobald die Gefangengesetzten erkennen, welche Gefahren auf sie lauern, ist ihr ganzes Sinen und Trachten auf die rettende Flucht gerichtet. Da man lediglich zu Fuß entkommen kann, versuchen sie, die Zellen der unheimlichen Hotels zu verlassen. Und hier zeigt sich der ausgeklügelte Sadismus der Einheimischen in seinem vollen Ausmaß: Die Ausgänge sind nicht bewacht, denn die Homobile in ihrem nicht zu übertreffenden Zynismus wissen sehr gut, daß ein solches Unterfangen nur durch ein Wunder gelingen könnte. Selbst wenn die Flüchtenden die Wegstrecke bis zur motopianesischen Grenze, die einige Dutzend Kilometer beträgt, nachts und somit bei mäßigem Verkehr zurücklegen und sich tagsüber verborgen halten, wäre die Zahl der zu überquerenden Asphaltstreifen viel zu groß, als daß die Armen ihr Ziel je erreichten. Zum Glück sind einige solcher Wunder geschehen, wenngleich sie unzählige Flüchtende mit dem Leben bezahlen mußten. Die Homobile haben den Flüchtenden falsche Hoffnungen gemacht und sich dann auf die Gehetzten und Ausgehungerten gestürzt, um sie erbarmungslos und böse kreischend zu zermalmen. Die Leichen haben sie am Ort der Untat liegengelassen: Ungeborgen und unbestattet sollten die Gebeine und fürchterlichen Schädel den anderen ein warnendes Beispiel sein, jeglichen Gedanken an Widersetzlichkeit fahrenzulassen.


(Aus dem Band Cuadratura cercului [Die Quadratur des Kreises], Dacia Verlag, Klausenburg 2001)

Aus dem Rumänischen übersetzt von Hans Herrfurth


Gheorghe Săsărman

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